In letzter Zeit bin ich oft dem Gedanken verfallen, wieso ich die Musik gern höre, die ich eben gern höre. Warum sprechen mich synthetische Klänge so sehr an, weshalb ausgerechnet monotoner, schleifender Techno? Warum nicht gewöhnliche Popmusik oder Rock? Im Prinzip also die selbst gestellte Grundsatzfrage für meinen heutigen Musikgeschmack. So richtig beantworten kann ich das nicht, weiß aber nun, wann es losging…
Der Leuchtturm
Den Nullpunkt markiert eine bestimmte CD für mich. Eine, die mich schon lange begleitet. Genauer gesagt seit 1999. Ich war zu dieser Zeit in Ausbildung. Verortet war diese in der ehemaligen Residenzstadt Gotha. Da ich mit meinen 17 Jahren noch keinen Führerschein besaß und mir der tägliche Anreiseweg mit dem Zug zu stressig war, quartierte ich mich in einem Lehrlingswohnheim direkt am Schloss Friedenstein ein. Dort fand ich recht schnell Anschluss an eine sehr nette Truppe. Wir verbrachten so ziemlich jeden Tag miteinander und hatten dabei stets einen Heidenspaß. Was für eine schöne und sorglose Zeit. Eines Nachmittags jedenfalls, brachte eine Freundin mehrere CDs mit. Ein paar dieser Scheiben sind mir noch im Gedächtnis geblieben. Darunter befanden sich „Daft Punk – Homework“ und eine Compilation namens „Tresor 100“. Wir begannen uns, wie üblich bei schönstem Wetter, gutgelaunt im Gothaer Park niederzulassen und starteten mit einer gemütlichen „Kräuter-Séance“. Die Freundin legte beiläufig die Tresor-CD in den Player und drückte „play“…
Der erste Track hämmerte gleich ohne Vorbereitung los und mein Blick rastete am Abspielgerät ein. „Geil!“ Fasziniert staunte ich und verstummte. Der Moment fror ein, die Umgebung um mich herum verdunkelte und ich sah mich in einer Art düsterem Bunker zufrieden mit dem Kopf nicken. Das Tiefschwarz durchzuckte ein hektisches Strobo. Ich konnte Wände riechen, die modrig rochen und Silhouetten von Menschen wahrnehmen, die scheinbar vollkommen losgelöst und ekstatisch abtanzten. Ein musikalisches Refugium in absoluter Autarkie. Ich tagträumte also vor mich hin. Natürlich unterstützten die zuvor inhalierten Kräuter, die bereits geleerten Flaschen „Kröver Nacktarsch“ und das CD-Cover diese Szene. Nichtsdestotrotz schien mir die Musik zu signalisieren: „Hier bin ich, dein Herumirren ist vorbei. Lass mich deine Reisebegleitung in deinem Eskapismus sein. Du musst nichts tun, lass dich einfach treiben!“
Ich bekam zum ersten Mal das Gefühl, richtige Musik zu hören und war restlos begeistert. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass mein letzter zuvor erstandener Tonträger eine „Members Only 5“ aus einem ProMarkt gewesen war. Die stank ja völlig gegen diese Tresor-Scheibe ab! Mir war instant klar gewesen, dass ich hier von etwas vollkommen Neuem gekostet hatte. Ein Durstgefühl nach dieser Art Konsens Musikschaffender kam auf – ich hatte so etwas wie einen kulturellen Schlüsselmoment durchlebt. Die CD musste nun zuerst mal auf Tape überspielt werden. Dazu nahm ich irgendein altes aus meiner Tasche, ab damit in das Kassettendeck und „record“ gedrückt. Jetzt konnte ich sie mir auch so oft reinziehen, wie ich wollte.
Der Kaskadeneffekt
Mir war bis vor Kurzem überhaupt nicht bewusst gewesen, dass diese Compilation die Blaupause für meine musikalische Neigung darstellt. Das kam erst im Zuge der Ausgrabung meiner Erinnerungen zur Erkenntnis. Geprägt durch meinen Vater, habe ich von jeher gern und viel Musik konsumiert, war aber nie vollends glücklich. Die Rock und Pop Musik, die auch meine Eltern hörten, empfand ich bereits mit 14 Jahren zum kotzen langweilig (mit Ausnahme von Nirvana). Eurodance war Ende der 90er tot und uncool, bei HipHop fehlte mir der Drive und solche Sampler wie „Rave Base“ waren mir mit Blick auf Techno stets zu inkonsequent. Die einzige CD in meiner noch winzigen Kollektion, für die ich mich nicht schämte, war „Sven Väth – Six In The Mix“. In vollkommener Ahnungslosigkeit kreist dann endlich so eine Scheibe daher und zeigt wie es richtig geht. Von da an hatte ich einen Referenzpunkt. Ich kannte nun die auf der CD vertretenen Künstler, sowie den Hinweis auf ein Label. Klar informierte ich mich nach und nach über die einzelnen Interpreten. Mir sagte damals, bis auf den Tresor, keiner was. Ich hatte keine Ahnung, dass das zu der Zeit richtige Persönlichkeiten im Techno-Universum waren. Mit Fumiya Tanaka bekam ich den ersten Berührungspunkt mit japanischem Techno. Daraus sollte noch eine Leidenschaft entstehen. (Da werde ich evtl. mal einen eigenen Artikel zu schreiben.) So tauchte ich Stück für Stück tiefer in die Welt des Technos.
Ab 1999 wurde lange Zeit nur noch Musik gekauft, die dem musikalischen Fingerabdruck der Tresor 100 zumindest stark ähnelte.
Tresor. Compilation Vol. 6
Der Tresor ist ein weltbekannter Techno-Club in Berlin. Der Club existiert seit 1991 und Tresor Records ist das angehörige Plattenlabel. Die „100“ steht für die hundertste Veröffentlichung auf diesem. Mehr Informationen zum Tresor gibt es HIER.
Was erwartet einen eigentlich auf dieser Platte? In erster Linie monotoner, harter Techno.
Das macht der Opener „Regis – The Theme From „Streetwalker“ sogleich unmissverständlich klar. Er ist immer noch einer der schleifendsten und monotonsten Techno-Tracks die ich kenne. Bei diesem Titel fange ich auch heute, 20 Jahre nach dem Erstkontakt, immer noch sofort an, lauter zu machen und mit zu wippen. Er besitzt eine rotzige Attitüde und extreme Sogwirkung. Um sich das mal vor Augen zu führen. Wir hängen da als Truppe, am frühen Nachmittag wohlgemerkt, total dicht feixend im schönen Gothaer Park ab und haben diesen Track mit satter Lautstärke am Laufen. Die unverständlichen und genervten Blicke der anderen Parkbesucher kann man sich sicher gut vorstellen. Smiley!
Ebenso hart aber weniger rotzig ist der zweite Titel „Fumiya Tanaka – One Sparkle“. Das Teil marschiert einfach vorwärts. Er klingt mit seinen Sirenen-Sounds nach Industriehalle. Sehr sauber produziert ohne Spielereien. So wie ich es mag!
Er wird gefolgt von „Scan 7 – Triple Darkness“. Dieser besitzt wieder diesen „Bad Ass“-Ausdruck und schraubt sich förmlich in die Hirnrinde.
Experimenteller wird es mit dem vierten Track „Surgeon & James Ruskin – Sound Pressure (Part 2)“. Das Teil schafft mich auch heute noch – der totale Film im Kopf. Diese Nummer spult und klackert sich in deine Gedankenwelt. Super geeignet um zu driften!
Wieder etwas ruhiger wird es mit dem nächsten Stück „Chrislo – L’Eau (Surgeon Remix)“. Das Ding groovt richtig derb. Wenn ich mir vorstelle, die Nummer mal auf einer dicken Anlage zu hören, bekomme ich feuchte Hände. Kleine „side note“: Eigentlich wollte ich Anfang der 2000er die Compilation auf Vinyl direkt beim Tresor Label ordern. Auf CD besaß ich sie bereits. Nur leider war sie nicht mehr auf Lager und Discogs kannte ich noch nicht. So bestellte ich anstatt die verfügbare „Sound Pressure“ EP. Als die Platte ankam wunderte ich mich, warum die Verpackung so ungewöhnlich dick war. Die netten Mitarbeiter von Tresor hatten mir doch tatsächlich, einfach so, die „Chrislo – L’Eau“ EP kostenlos mit dazugepackt. Sehr feine Geste!
„Pacou – Encounter“ lautet der sechste Track auf der CD. Auch dieser besitzt eine hypnotisierende Machart, ist aber in seinem Aufbau minimalistischer, dennoch ebenso stringent.
Mit dem siebten Track nimmt die Compilation ihre erste Wendung. „Christian Vogel – They Bought You At The Party“ ist merklich komplexer konstruiert. Es gibt jetzt so etwas wie eine Melodie. An den Track-Namen anlehnend, markiert das kleine Prelude den Weg zur Party und der erste Bleep, den Einwurf des ersten synthetischen „Euphorie-Spenders“. Denn von da an nimmt der Track extrem Fahrt auf. Jeder weitere Bleep symbolisiert den nächsten Einwurf, bis zum Absturz am Ende des Tracks. So sieht meine eigene Interpretation dazu aus. Chrisitan Vogel war/ist ein ziemlich herausstechender Techno Künstler. Sein Werke sind oft sehr vertrackt. Etwas für eingefleischte Techno-Jünger.
„Blake Baxter – Used To Kiss Me“ ist die einzige housige Nummer auf der Tresor 100. Sie bringt Ruhe und Abwechslung in die Selektion. Durch ihre reduzierte Struktur wirkt sie in keinster Weise störend oder fehl platziert. Ein richtig guter Titel!
Nummer neun kommt zurück zum Hauptaugenmerk der CD. „Neil Landstrumm – Tidal Wave Emulation“ ist wieder technoider. Ein kräftiger melodiöser Groove gespickt mit Effekt-Samples im typischen Landstrumm-Stil.
Ein Track mit Acid-Charakter darf natürlich nicht fehlen. „Heiko Laux – 101,106“ füllt diese Nische. Die Acid-Sequenz gibt den Drive vor und wird begleitet von einem leichten 909-Kick.
Beim Vergleichen der Vorder- und Rückseite des CD-Covers wird man stutzig. Während vorne der Name Juan Atkins aufgeführt ist, sucht man ihn auf der Rückseite bei der Titelübersicht vergeblich. Man kommt zu dem Schluss, da muss sich wohl ein Fehler eingeschlichen haben. Dem ist nicht so. Hinter dem elften Track „Infiniti – Thought Process“ steckt niemand anderes als eben dieser Juan Atkins. Der Titel ist der erste der letzten drei, die ich in die „After“ verorten würde. Unaufgeregt, mit positiver Attitüde und Schwebungen lädt er zur Reise ein.
Der Titel mit der längsten Spieldauer auf der Compilation ist die Nummer zwölf „Basic Channel – Octaedre“. Auch wenn der Techno-Track ein hohes Tempo besitzt so ist er sehr dubbig und meditativ.
„Substance – Plate Element 2“ ist allerdings noch deutlich meditativer und bildet den perfekten Abschluss. Diese Nummer könnte ich stundenlang in einer Endlosschleife hören. Leider ist sie viel zu kurz! Der softe Kick klingt so, als würde man sich außerhalb eines Clubs befinden. Oder die Ohren sind betäubt nach einer langen Techno-Nacht.
Als Hinweis: Auf der Doppelvinyl befinden sich nicht alle Titel der CD-Ausgabe! Auch wenn die Artists auf der Cover-Vorderseite aufgeführt sind.
Selbstbestimmung
Wie oben schon erwähnt, dient mir diese abstrakte Musik zur Reise in eine andere Realität – ein alternatives Zuhause. Heute brauche ich dafür auch keine bewusstseinserweiternden Hilfsmittel mehr. Das klappt allein durch die Musik über Kopfhörer sehr gut. Andere nutzen zum Abschalten Fernsehen, Alkohol oder irgendein Hobby. Ein Arbeitskollege meint zu meinem Musikgeschmack öfter mal, ich hörte Musik ohne Höhepunkte. Dem entgegne ich dann stets, dass das was er an Radiomusik hört, äquivalent zum Ansehen von Kinotrailern ist. Auf kurzem Zeitraum möglichst viele und prägnante Highlights. Ich hingegen bevorzuge den ganzen Kinofilm. Da muss sich was aufbauen können. Das Highlight für mich sind die geilen Sounds. Zudem sagt mir diese abstrakte Form der Musik nicht was ich beim Hörgenuss zu denken habe. Durch den Verzicht auf Gesang, Melodie und klassische Songstruktur, lässt sie mir einfach viel mehr Freiheit in der Wahrnehmung.
Diese Compilation hat mich damals so nachhaltig beeindruckt, dass ich heute, 20 Jahre später, anhaltend dem Techno fröne. Gleichwohl es da Unterbrechungen und Ausflüge in housigere Gefilde gab, fühle ich mich immer noch in dieser Richtung der Musik am besten aufgehoben. Die Faszination und Neugierde für Elektronische Musik ist nach wie vor da. Auch wenn das Rebellentum in mir nicht mehr so groß ausgeprägt ist und ich mich mit Techno nicht mehr vordergründig abgrenzen mag, so überwiegt zumindest das Gefühl, dass es noch eine Menge zu entdecken gibt. Kürzlich stieß ich erst auf Nina Pixel mit ihren Klang-Collagen. Die Tresor 100 hat meine Sichtweise auf Musik jedenfalls extrem verändert. Und an dieser Stelle sei dem Selekteur für diese CD, wer auch immer die Auswahl dazu traf, mein größter Dank übermittelt! Das gilt ebenso für Sindy, die damals im Sommer ’99 diese CD mitbrachte…
Zum Schluss
Letzten Winter war ich mit Familie und Freunden auf dem Weihnachtsmarkt in Gotha. Da sich dieser unweit von meinem ehemaligen Lehrlingswohnheim befindet, wollte ich unbedingt mal einen Abstecher dahin tätigen. Dort angekommen, musste ich leider feststellen, dass es nicht mehr genutzt wird. Man hat das Gebäude in eine Art Umhang gehüllt. Es war trotzdem schön, nach so vielen Jahren, mal wieder dort gewesen zu sein. Ich habe das Haus mit einem Pfeil markiert.
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